Händel, Barock und Historische Aufführungspraxis

Zu Besuch bei der 35. Internationalen Händel-Akademie

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Dirk - Februar 2022

Wie immer Mitte Februar ist Händel in aller Munde, wenn die goldenen Büsten des Staatstheaters die Innenstadt bevölkern. Konzerte, pompöse Opern – Barockmusik vom Feinsten eben, die auch Otto-Normalverbraucher schon mal gehört haben. Aber wusstet Ihr, dass nebenher auch seit über 30 Jahren junge Musiker*innen aus aller Welt eine Woche lang zusammenkommen, um Meisterkurse in Historischer Aufführungspraxis zu besuchen und gemeinsame Abschlusskonzerte auf die Beine zu stellen? Wir auch nicht. Und was ist überhaupt Historische Aufführungspraxis?

Händel, Barock und Historische Aufführungspraxis

Wir waren zu Besuch bei der 35. Internationalen Händel-Akademie und haben mit Teilnehmer*Innen, Dozent*Innen und den Verantwortlichen gesprochen und fleißig Fotos gemacht, um euch einen Behind-The-Scenes Eindruck zu geben.

Die meisten Menschen erleben nur das Ergebnis dieses einwöchigen Workshops, der einmal im Jahr parallel zu den Händel-Festspielen stattfindet, aber wir durften auch einmal hinter die Kulissen blicken und haben uns die Proben angeschaut. Wir haben uns mit Prof. Dr. Thomas Seedorf, Prof. Jörg Halubek und Prof. Deborah York unterhalten, die uns die Hintergründe der Akademie erklärt und uns fachliche Einblicke in die Kurse geboten haben. Coronabedingt fand die diesjährige Akademie nicht in der Hochschule für Musik, sondern in direkter Nachbarschaft auf dem Schlachthof-Gelände statt.

Prof. Dr. Thomas Seedorf ist Vorsitzender des Vereins Internationale Händel-Akademie Karlsruhe und ist verantwortlich für den gesamten Ablauf, außerdem steht er den Teilnehmenden als musikwissenschaftlicher Berater zur Verfügung. Zudem ist er Professor für Musikwissenschaft am Institut für Musikwissenschaft und Musikinformatik an der Karlsruher Hochschule für Musik.

Prof. Jörg Halubek ist an der Stuttgarter Musikhochschule Professor für Orgel und Historische Tasteninstrumente und selbst seit etwa 10 Jahren aktiv als Dirigent im Bereich Barockopern, Historischer Aufführungspraxis und Orchester, sowie Ensemble-Arbeit. Er hat sein eigenes Orchester „il Gusto Barocco“, arbeitet aber auch mit modernen Orchestern.

Prof. Deborah York kommt ursprünglich aus Sheffield in Yorkshire, kam als freiberufliche Sängerin nach Deutschland und wohnt hier seit mittlerweile 25 Jahren. Bereits bei einem ihrer ersten Engagements an der Staatsoper in Berlin sang sie in einer Händelproduktion von „Semele“. Sie ist bereits das dritte Mal als Dozentin bei der Internationalen Händel-Akademie dabei und unterrichtet darüber hinaus an der UDK in Berlin das Hauptfach Gesang.

Vlnr: Thomas Seedorf, Jörg Halubek, Eric Nikodym (Geschäftsführer)

Händel meets Schlachthof

Wir treffen während der Mittagspause der Workshop-Teilnehmer*Innen in der Fleischmarkthalle ein und können uns – ohne bei den Proben zu stören – erst einmal in Ruhe umsehen. Hier trifft Klassische Musik auf den Industriecharme vergangener Zeiten. In der großen Halle sind Plätze für die Musiker*Innen und Sänger*Innen aufgebaut, auch zwei Cembalos und andere historische Barockinstrumente sind hier zwischen Gusssäulen und rauem Putz zu finden. Für mich ein ungewohnter Anblick. Sonst kenne ich die Räumlichkeiten nur bei Nacht und mit künstlichem Licht geflutet, Video-Installationen an den Wänden und einem DJ-Pult in der Ecke. Ohne die Meute feiernder Menschen wirkt die große Halle um einiges imposanter, nicht zuletzt durch die Gewölbedecke, die mir erst jetzt auffällt. Prof. Dr. Thomas Seedorf und der Geschäftsführer Eric Nikodym zeigen uns die Räumlichkeiten und erklären uns den genauen Ablauf der Workshop-Woche. Die Führung beginnt in den kleinen Seminarräumen, in denen es vor Instrumenten, Notenständern und anderem Equipment nur so wimmelt. Am Ende unseres kleinen Rundgangs sind wir wieder in der großen Halle angekommen, der das Gebäude seinen Namen zu verdanken hat. Herr Seedorf und Nikodym bewundern die besondere Akustik, die in der großen Halle vorherrscht, und den weitreichenden Hall, der bereits während der Proben einen Hauch Konzertcharakter vermittelt. Nachdem wir einen ersten Eindruck über die Räumlichkeiten gewonnen haben, muss natürlich die wichtigste Frage zuerst geklärt werden.

Was genau ist eigentlich die Internationale Händel-Akademie?

Die Internationale Händel-Akademie startete 1986 und bietet Kurse in der sogenannten Historischen Aufführungspraxis an, die damals noch nicht so weitläufig erschlossen war, wie es heute der Fall ist. Das Ziel der Akademie ist es Musiker*Innen mit Fokus auf Georg Friedrich Händel und dessen Werk in die Welt der historischen Barockmusik mit alten Instrumenten eintauchen zu lassen. Wie uns Herr Halubek erklärt, werden die Dozent*Innen von der Internationalen Händel-Akademie in Absprache mit deren Künstlerischen Leiter eingeladen. Die Kurse werden ausgeschrieben, bewerben können sich alle, die die jeweiligen Ausschreibungskriterien erfüllen.

Und wer macht bei so einer Akademie mit?

Nach und nach füllt sich der Raum mit Teilnehmer*Innen und Dozent*Innen und wir schnappen uns direkt zwei junge Musiker*Innen, die das erste Mal an der Akademie teilnehmen. Adriano da Silva Trarbach und Mariana Gomes, beides junge Student*Innen aus Hamburg, gebürtig aber aus Brasilien und Portugal, sind durch einen Flyer an ihrer Hochschule auf die Akademie aufmerksam geworden und wollten direkt an dem Karlsruher Workshop teilnehmen. Mariana ist Geigerin und Sopranistin und freut sich besonders auf die Möglichkeit, in beiden Sparten an der Akademie gefördert zu werden und ihr erstes Mal ein ganzes Oratorium zu spielen. Beide beschäftigen sich schon im Studium intensiv mit der Historischen Aufführungspraxis und finden es klasse, sich in dieser einen Woche in allen möglichen Rollen ausprobieren zu können. Auch das Feedback des Dozenten-Teams und die Ideen, die beim gemeinsamen Erarbeiten des Stückes entstehen, waren für sie einer der Hauptgründe, an der Internationalen Händel-Akademie teilzunehmen. Gerne würden wir uns noch länger mit den beiden Musiker*Innen unterhalten, aber wir wollen sie dann auch nicht länger in ihrer Mittagspause aufhalten und streifen daher weiter auf unserer Erkundungstour durch die Fleischmarkthalle.

„Il Trionfo“ mit internationaler Note

Als nächstes begegnen wir Jörg Halubek. Er ist das erste Mal bei der Händel-Akademie dabei und hat sich sehr über die Anfrage gefreut, die künstlerische Leitung zu übernehmen, sowie das Thema und das Dozenten-Team vorschlagen zu dürfen. Auch wenn es vielleicht als Novum gilt, sich für nur ein Werk für diese Kurswoche zu entscheiden, so ist er doch der Ansicht, dass „Händels ‚il trionfo‘ ein wunderbares Oratorium vom jungen Händel ist, das eben für alle sehr viel bereithält, also sowohl für die Continuo-Gruppe, als auch für die Sänger. Wegen der ganzen Instrumente-Soli dachte ich, dass dies eigentlich ein gutes Werk für so eine Kurswoche ist. Das Ziel ist, dass sich eine Woche lang in dieser Orchester-Akademie jeder Einzelne ausprobieren kann.“

Aus der Mittagspause gesellt sich Deborah York zu uns. Für sie ist besonders der internationalen Charakter der Akademie ein Alleinstellungsmerkmal: „Ich freue mich sehr, dass wir hier ganz viele junge Sänger*Innen aus unterschiedlichen Nationen haben. Wir hatten alleine für den Gesang schon Leute aus der Ukraine, Russland, Japan, Südkorea, Deutschland und Österreich, es ist sehr international. Das, was die internationalen Studierenden zusammenbringt, ist das Thema Händel und der Fokus auf ein einzelnes Stück ‚Il Trionfo del Tempo e del Disinganno‘, was ich als junge Sängerin für eine Aufnahme im Jahr 2000 mit Rinaldo Alessandrini und Concerto Italiano selbst einstudiert habe. Deswegen kenne ich das Stück sehr gut und es ist eine Freude, es wieder zu entdecken, jetzt nach ein paar Jahren mit jungen Stimmen!“

Einfach nur Noten ablesen? Falsch gedacht! Oder: Was ist eigentlich Historische Aufführungspraxis?!

In den Gesprächen mit den Musiker*Innen muss ich dann doch öfter nachfragen, was die einzelnen Fachbegriffe bedeuten – ich glaube, dass sich selten jemand, der sich so schlecht mit klassischer Musik auskennt, zur Händel-Akademie verirrt hat. Insbesondere die Historische Aufführungspraxis, für die die Akademie steht, bedarf dann doch nach einer genaueren Erklärung. Zum Glück nimmt sich Herr Seedorf unserer an und bringt für uns etwas Klarheit in den Fachbegriffe-Dschungel.

„Notentexte sind keine Betriebsanleitungen, die ein Musiker nur minutiös umzusetzen hat, um ein musikalisches Werk angemessen zum Klingen zu bringen. Auch eine scheinbar eindeutige Angabe wie die Lautstärkebezeichnung ‚piano‘ ist interpretationsbedürftig, denn sie sagt nichts darüber aus, wie ‚leise‘ das geforderte Piano sein soll. Jeder Ausführende muss einen Notentext deuten, das heißt, den Sinn der dort zu findenden Angaben interpretieren. Je weiter man sich in der Musikgeschichte zurückbewegt, desto weniger Vortragsbezeichnungen finden sich in den überlieferten Noten. Das bedeutet aber nicht, dass früher undifferenziert gespielt oder gesungen wurde – das Gegenteil ist der Fall.“

Leider weiß Herr Seedorf wohl nicht, dass ihn heute ein absoluter Musikbanause besucht, und so muss Herr Halubek noch einmal zur Hilfe eilen - Hätte ich mal doch etwas besser im Musikunterricht aufgepasst.

„Also das Instrumentarium ist das Eine, das ein anderes Handling hat. Barock-Oboe und moderne Oboe sind wirklich wie zwei verschiedene Instrumente. Aber das, was – wie ich finde – noch viel stärker ist, ist eigentlich, dass die Notation in der Barockzeit mehr eine Konzeptnotation ist und je weiter wir kommen, desto genauer wird es. Die Besetzungen werden größer und umso genauer wird aufgeschrieben, was die einzelnen machen müssen, sowohl Artikulation als auch Dynamik, Tempo und so weiter. Und die Barocknoten sind eigentlich komplett leer, da stehen nur Tonhöhen und Tonlängen und man muss quasi in diese Zeit eintauchen. Man hat so viel Entscheidungsspielraum, was man so überhaupt machen kann, und manchmal macht man einfach viel zu wenig, und dann klingt‘s leer und langweilig.“

Händel und Jazz? Gar nicht so widersprüchlich.

Entscheidungsfreiraum, kein fest vorgegebenes Tempo? Meiner Kollegin, die weitaus mehr musikalische Bildung besitzt als ich, fällt an dieser Stelle der Vergleich mit Jazz ein, da dort auch viel improvisiert wird und es mehr Spielraum gibt. Zu meiner Erleichterung werden wir für diesen Vergleich nicht aus den Hallen der Akademie geschmissen. Uns wird erklärt, dass die Notation zwar eine grobe Architektur vorgibt, dies aber nur funktioniert, wenn die Musiker*Innen auch zusammenspielen. Es wird zwar viel improvisiert, aber immer aus dem Verständnis für die Sache und die damalige Zeit.

Also auch nicht einfach alles beliebig…

„Das Vokabular, würde ich sagen, ist schon sehr verbindlich in der Zeit“, so Jörg Halubek. „Und das muss man halt lernen über das Studium und dann kann man nachher natürlich improvisieren. Aber das heißt nicht, dass man irgendwas spielen kann. Ich würde sagen, Jazz ist genauso: Die Musiker, die zusammenkommen, die wissen, was sie tun. Die kennen ihre Tonsprache und ihre Improvisationssprache und dann funktioniert’s!“

Musik für die Zukunft?

Im weiteren Gespräch mit Herrn Seedorf erfahren wir, dass 2016, als er zum Künstlerischen Leiter berufen wurde, die Zukunft der Internationalen Händel-Akademie ungewiss war. Aber „es gab ein bewegendes Abschlusskonzert und eine Fülle zustimmender und stärkender Rückmeldungen, die meine Kollegen und mich sehr darin bestärkten, alles uns Mögliche für den Erhalt der Akademie zu unternehmen. Und das größte Glück besteht für mich darin, dass dies gelungen ist.“

Und was für ein Glück, dass uns die Akademie erhalten geblieben ist. Nur durch solche Formate haben junge Musiker*Innen wie Adriano und Mariana die Möglichkeit, sich im Bereich Barockmusik und Historische Aufführungspraxis weiterzubilden und das zu studieren, was ihnen an der Musik am meisten Freude macht. In diesem Jahr dann eben sogar auch erstmals gemeinsam mit allen anderen an einem großen Stück. „Die Kursteilnehmer*Innen erwartet ein spannender Arbeitsprozess, bei dem jeder von jedem lernen kann – Und die Konzertbesucher*Innen dürfen sich auf die Aufführung eines hinreißenden italienischen Oratoriums des jungen Händel freuen!“, so Thomas Seedorf.

Auch für Deborah York gilt es ein solches Format zu bewahren: „Es ist sehr schön, eine Möglichkeit zu haben, sich hier an der Akademie spezifisch auf Händel zu fokussieren. Es ist wirklich ein spezielles Gebiet. Nicht alle Sänger*Innen haben so leicht Zugang zu der Arbeit mit alten Instrumenten, Basso Continuo und dem Thema Alte Musik. Die Teilnehmer*Innen kommen von verschiedenen Hochschulen, weltweit, und es ist sehr schön, diese Interaktion zwischen Hochschulen zu fördern, das finde ich sehr wichtig. Es ist womöglich auch das erste Mal, dass die jungen Sänger*Innen an einem ganzen Stück beteiligt sind, von Anfang bis zum Schluss. Normalerweise, wenn man ziemlich jung ist, lernt man eine Arie von hier, ein paar Duette von dort, aber dieses Verständnis für ein großes Stück, einen Überblick zu bekommen und von Kollegen zu lernen, das ist auch was Schönes, ich freue mich auf diesen Austausch.“

Begeisterung steckt an… Die Virtuosität lässt sich leider nicht einfach so aufsaugen!

Wie schnell doch die Zeit vergeht, wenn man sich mit Menschen unterhält, die so für ein Thema brennen und begeistert von ihrer Arbeit berichten! So langsam erklingt aus allen möglichen Ecken und Räumen der Klang historischer Instrumente und Gesang und unser kleiner Exkurs in die Welt der händelschen Barockmusik nähert sich dem Ende.

Abschließend bleibt uns nur noch, uns der Hoffnung von Herrn Seedorf anzuschließen, dass die Internationale Händel-Akademie „auch künftig keinen Sparmaßnahmen zum Opfer fällt und sich dynamisch weiterentwickelt.“

Ein riesengroßes Dankeschön an alle Beteiligten, dass Sie sich die Zeit für uns genommen haben und die Geduld besaßen, einem absoluten Laien die Hintergründe der Internationalen Händel-Akademie sowie der Historischen Aufführungspraxis zu erklären. Für alle, die es dieses Jahr nicht geschafft haben ein Konzert der Händel-Akademie zu besuchen, gilt es jetzt noch ein Jahr durchzuhalten, sich vielleicht mit ein paar Aufnahmen zu trösten und sich für die Aufführungen der 36. Internationalen Händel-Akademie so früh wie möglich Tickets zu sichern.