Göttinnen des Jugendstils

Große Sonderausstellung im Badischen Landesmuseum

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Natalie · Dezember 2021

Der Jugendstil erobert um 1900 das bürgerliche Europa. Es herrscht Aufbruchstimmung: Die Frau steht im Zentrum künstlerischer Darstellungen - verführerisch, floral-verspielt oder mystisch überhöht. Zwar werden Kunst und Realität von Männern dominiert, doch machen sich Frauen zunehmend unabhängiger, ergreifen Berufe und treten als gefeierte und anerkannte Künstlerinnen in Erscheinung. Die Ausstellung „Göttinnen des Jugendstils“ zeichnet das Portrait einer faszinierenden Zeit, schildert Kunst-, Konsum- und Lebenswelten der modernen Frau um 1900 und bietet auch den Künstlerinnen selbst eine Bühne. Die Ausstellung birgt spektakuläre Werke des Jugendstils. Ich war bereits dort und teile meine persönlichen Impressionen zur Ausstellung mit Euch.

Kaum betrete ich das Foyer, bin ich schon in einer anderen Welt: Die Stimmung ist mystisch-geheimnisvoll und um mich herum strahlen Frauengestalten in verschiedenen Darstellungsformen. Der Jugendstil wendet sich mit seinen fließenden Linien und floralen Ornamenten gegen den vorherrschenden Historismus und die als seelenlos empfundene Industrialisierung. Frauen sind ein charakteristisches Motiv des Jugendstils und spiegeln die gesellschaftlichen Konflikte dieser Zeit. Die Darstellungen wirken märchenhaft oder dämonisch, sind volkstümlich oder Ausdruck der Modernen Frau. Wie ich erfahre, zeigt die Ausstellung Konsum- und weibliche Lebenswelten auf und bietet bisher kaum beachteten Künstlerinnen eine Bühne. Ich frage mich, wie sich die „Frauenbilder“ im Laufe der Zeit verändert haben und welche Themen sogar heute noch aktuell sind…

Cover der Zeitschrift „Jugend“

Blick in den Raum „Kunstwelten“

Kulturhistorischer Kontext - sozialer Wandel um 1900

Zunächst erwartet mich die Verortung des Jugendstils im kulturhistorischen Kontext. Der Jugendstil spiegelt die gesellschaftlichen Umbrüche um 1900, wobei sich die Industrialisierung massiv auf die Gesellschaft und Umwelt der Menschen auswirkt. In den Städten etablieren sich neue Formen der Konsum- und Unterhaltungskultur. Das Menschenbild wird durch wissenschaftliche sowie philosophische und neue religiöse Ansätze ins Wanken gebracht. Hierbei prallt Fortschritt auf Tradition, Forschung auf Glauben. Eine junge Generation von Künstlern und Künstlerinnen beginnt nun, Mensch und Gesellschaft in ihren Werken zu reflektieren. An einem interaktiven Bildschirm sowie einer Wand, die Zitate und Fakten von berühmten Persönlichkeiten enthält, tauche ich voller Faszination tiefer in die Welt um 1900 ein.

Menschenbilder im Wandel

Die Zeit um 1900

Kunstwelten

Im Bereich Kunstwelten springt mir eine große Bandbreite von Darstellungen ins Auge, denn neben der Femme fatale boten auch mittelalterliche Legenden oder antike Mythologie Inspiration. Aphrodite und Madonna stehen sich konträr gegenüber. Nackte, sinnlich inszenierte Frauenfiguren verkörpern ein wachsendes Verlangen nach körperlicher Freiheit und mystische Wesen den Wunsch spiritueller Erhöhung. Mittelalterliche Feen symbolisieren ein Leben in Reinheit, die furchterregende Medusa hingegen den Tod und Verfall. Gleichzeitig spiegeln die Gestalten gesellschaftliche Gegensätze, Faszination für Natur genauso wie für die Dekadenz. Die geheimnisvollen Frauenfiguren des Jugendstils sind häufig mehrdeutig, wobei ihre klischeehaften und stark idealisierten Darstellungen noch heute kontrovers diskutiert werden. Mich faszinieren der Raum voller Schönheit, Ausdruck, Wärme und Eleganz, aber auch die Dualismen, die sich in den Kunstwerken widerspiegeln und knisternde Spannungen erzeugen.

Edvard Munch, Grafik „Madonna“

Max Blondat, „Le Tourbillon“ (dt. Der Strudel)

Konsumwelten – Ikonen der Moderne

Den nächsten Raum betretend, gehe ich auf die Büste eines jungen Mädchens zu, welche eine Champagnerflasche in den Armen hält. Um 1900 pulsierte das Leben in modernen Großstädten: Theater, Varieté, Café und Kino boten Unterhaltung, Metro und Straßenlaternen veränderten das Stadtbild. Erste Kaufhäuser ließen den Konsum zum Erlebnis werden, wobei mit der Mittelschicht ein kaufkräftiges Publikum entstand und die moderne Werbung zudem Begehrlichkeiten weckte. Der Jugendstil ist demnach auch in dieser Konsumwelt zu verorten, denn er prägte maßgeblich die Produkte und Grafik der Zeit. Die Plakatkunst wurde revolutioniert und fand durch neue Drucktechniken weite Verbreitung. Für Luxusprodukte und Alltagsgegenstände wurde mit idealisiert und verführerisch dargestellten Frauen geworben, wobei sie zugleich zu Ikonen für bekannte Marken oder für technische Errungenschaften wurden. Die Mädchenbüste erneut betrachtend, frage ich mich, wie Gesellschaft und Medien wohl heute auf diese Inszenierung reagieren würde bzw. welche Parallelen ich zur heutigen Werbewelt ziehen kann. Vielleicht im Gender Marketing unter „Sex sells“…

Blick auf „Femme Fleure“, Edmond Quinter Charenton-le-Pont, 1900

Konsumwelten

Lebenswelten der Frau

Der Jugendstil war eine internationale Kunstbewegung, die als französische Art Nouveau oder Wiener Secession eigene Ausdrucksformen fand. Doch wie sahen die Lebenswelten der modernen Frau aus? Sie strebten nach Bildung, Unabhängigkeit und Beruf. Sie eroberten ihre Rechte und verfochten Ansprüche fernab der traditionellen Rollen. Allerdings erhielten sie erst 1918 das Wahlrecht. Wie ich erfahre, gründete der Verein Frauenbildung um 1893 das erste deutsche Mädchengymnasium in Karlsruhe.

Auf Jugendstil-Plakaten wird die Idee der „Neuen Frau“ gezeigt. Sie liest Zeitung, treibt Sport und raucht Zigaretten. Die Darstellungen sollten den Konsum anregen und andere Frauen als Kundinnen ansprechen. In der Mode wurde das Korsett zunehmend gegen lockerere Kleidung eingetauscht. Diese verbreitete sich über Kaufhäuser sowie Journale und nahm mit ihrem ästhetischen Anspruch den Markt ein, wobei hierzu auch die neue Sport- und Radfahrkleidung gehörte. Das Fahrrad wurde Vehikel und Sinnbild der Emanzipation.

Zigarettendosen

Wandgrafik

Radfahrkleidung

Mode um 1900

Von Beruf Künstlerin

Künstlerin statt Kunstobjekt. Im nächsten Raum betrete ich die Welt der Künstlerinnen um 1900. Die Videoinstallation einer Tänzerin, die mit meterlangen Seidenstoffen in einem Schlagentanz über die Bühne wirbelt, erweckt sofort meine Aufmerksamkeit.

Schillernde Weltstars wie die Tänzerin Loïe Fuller oder die Schauspielerin Sarah Bernhardt erlangten auf internationalen Bühnen große Berühmtheit. Sie verzauberten das Publikum und erhielten nicht zuletzt durch die allgegenwärtige Plakatkunst namenhafter Jugendstil-Künstler wie Alfons Mucha den Status lebender Ikonen. Sie betrieben schon damals offensive Selbstvermarktung. Vom Kurator der Ausstellung erfahre ich, wie extravagant eine „Sarah Bernhardt“ damals gelebt hat: Als Haustier hielt sie sich ein Krokodil und auf ihren Tourneen hatte sie wohl immer einen Sarg im Gepäck, um darin in den Pausen eine Siesta zu halten. An dieser Stelle schließt sich der Kreis zum ersten Ausstellungsbereich, wobei sich die Dekadenz der vorherigen Darstellungen hier nun in der Dekadenz des Lifstyles widerspiegelt. Allerdings waren nur wenige Künstlerinnen der Zeit um 1900 in der öffentlichen Wahrnehmung so präsent wie Loïe Fuller oder Sarah Bernhardt.

Die weit größere Zahl der Jugendstil-Künstlerinnen arbeitete jedoch vorwiegend im Schatten der männlichen Kollegen und zwar in deren Werkstätten sowie in künstlerischen Verbänden. Zwar öffneten sich die Kunstschulen zunehmend für Frauen, jedoch hatten diese weiterhin mit Benachteiligung zu kämpfen. Frauen waren vielfach in angewandten Künsten tätig, etwa der Werbegrafik, der Keramik oder der Fotografie. Malerei und Bildhauerei hingegen waren ihnen häufig nicht zugänglich. Frauen lieferten wichtige Beiträge zur Kunst des Jugendstils und führten bisweilen äußerst erfolgreiche Unternehmen, und sind doch bis heute namentlich nicht oder kaum bekannt. Besonders interessant finde ich deshalb, dass die Ausstellung verschiedene Lebenswege vorstellt und damit auch Künstlerinnen eine Bühne bietet, die in der Forschung und in Museen bislang wenig präsent sind.

Plakate von Alfons Mucha für Theatervorführungen der Schauspielerin Sarah Bernhardt, 1894–1899

Tanz der Loïe Fuller

Jugendstil heute

Neben Darmstadt, Dresden und München zählt Karlsruhe zu den bedeutendsten Jugendstil-Städten Deutschlands. Das Karlsruher Stadtbild wurde von den Architekten Billing sowie Curjel und Moser geprägt, die eindrucksvolle Bauten wie den Hauptbahnhof, die Hof-Apotheke oder die Villenkolonie in der Baischstraße hinterließen. Der Jugendstil erfreut sich seit seiner Wiederentdeckung in den 1960er Jahren wieder einer großen Beliebtheit. Auch heutige Künstler und Künstlerinnen finden in den Ornamenten und Motiven des Jugendstils Inspiration: nicht nur in klassischen Gattungen wie der Schmuckkunst, sondern auch in modernen Graffitis oder Tätowierungen. Wer mit einem offenen Blick durch Karlsruhe läuft, befindet sich auf den Spuren des Jugendstils!

Neugierig geworden? Dann schaut selbst vorbei: Die Göttinnen des Jugendstils findet Ihr bis zum 19. Juni 2022 im Badischen Landesmuseum!