Gestern, heute, morgen

Wie es Karlsruhe schafft, gestern, heute und die Zukunft der Kunst an einem Ort zu präsentieren

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Ulf Göttges

Jede Wette – solch einen Platz haben Sie in Deutschland noch nie gesehen oder betreten. Riesige Industriehallen, zehn Lichthöfe, beinahe zehn Meter hohe Decken. Die in ergrauten Beton gegossene leibhaftige Definition von „imposant“. Es ist der „Hallenbau“ in Karlsruhe, das Erbe einer längst vergessenen Waffen- und Munitionsfabrik. Vergessen, weil sich der Ort zerstörerischer Industrie längst in einen Ort vielfältiger Schöpfung und Kreativität verwandelte, denn seit 1989 ist der Hallenbau Heimat des ZKM | Zentrum für Kunst und Medien, von seinem genialen ersten Leiter und in der Kunstwelt verehrten Professor Heinrich Klotz gegründet und nach ihm von dem legendären und 2023 verstorbenen Medienkünstler Prof. Peter Weibel zu internationalem Rang geführt.

Mehr geht nicht? O doch, in Karlsruhe geht das! Der Hallenbau wurde zu einem Ort der Kunst, an dem die Besucherinnen und Besucher in einen faszinierenden Time-Tunnel der Kunst eintauchen: Gestern, heute, morgen …

Deutsche Waffen- und Munitionsfabik Karlsruhe (IWKA), Gartenstraße 67, 1929, © Badisches Landesarchiv Karlsruhe

Gestern

Als die Kunsthalle Karlsruhe wegen einer Komplettsanierung für einige Jahre aus ihrem klassizistischen Gebäude in der City ausziehen musste, machte sie auf Einladung des ZKM aus der Not eine Tugend. Sie konzentrierte die 600 Glanzstücke ihrer Sammlung, zu der Gemälde des Mittelalters, des Barocks, der Romantik und der Klassik zählen, in neu konzipierten Räumen am Ende des Hallenbaus. Dabei arrangierten die Kuratorinnen und Kuratoren vor schwarz abgehängten, raffiniert beleuchteten Wänden in beinahe mystisch wirkenden langen Gängen eine eigene Zeitreise durch ihre Welt, die Expertinnen und Experten und Gäste begeistert: Sie führt von dem zu Herzen gehenden archaischen Werk Die Kreuztragung Christi Matthias Grünewalds (1480–1530), das 20 Jahre lang aufwendig restauriert wurde, vorbei an Caspar David Friedrichs 1824 entstandenem frühromantischem Gemälde Felsenriff am Meeresrand bis zum Stadtbild F aus dem Jahr 1968 des so scheuen wie genialen Malers Gerhard Richter. Unterwegs lohnt es sich abzubiegen – in einen eigens geschaffenen Raum. Denn hier hängen Gemälde, die der Kunsthalle von der Stahlunternehmerfamilie Röchling gestiftet wurden – berührende Kunstwerke von der Spätgotik bis zum Rokoko (15. bis 18. Jahrhundert). Wer sich nur allein diesem Raum mit allen Sinnen öffnet, kann beim Abendessen weiterträumen. Oder – noch besser! – mit Gleichgesinnten schwelgen und feststellen: „Gestern“ ist hier kein Ort nostalgischer Betrachtung, sondern vielmehr inspirierend, fesselnd, überraschend und faszinierend. Die Kunsthallen-Kreativen haben ihrer Ausstellung einen programmatischen, wegweisenden Titel verliehen: KunsthalleKarlsruhe@ZKM. Ein neuer Blick auf die Sammlung. Immer wieder bestätigen Besucherinnen und Besucher: Dieses Arrangement und die klug konzipierte Konzentration lassen die Schätze der Kunsthalle noch attraktiver und reizvoller wirken.

Foto: Andreas Drollinger

Heute

An der genau gegenüberliegenden Seite der Kunsthalle, am anderen Ende des Hallenbaus, entsteht gerade die Städtische Galerie neu. Nicht nur ihre Innenarchitektur ist in die Jahre gekommen und bedarf der Renovierung, nein, auch das inhaltliche, kreative Konzept entsteht neu: mehr zeitgenössische Kunst, zum Beispiel die Avantgarde der Fotografie. Das vielversprechende Motto: „Update! Die Sammlung neu sichten“. Bald wird hier zur Neueröffnung die in Karlsruhe und Paris lebende Malerin, Grafikerin, Installations- und Videokünstlerin sowie Professorin für Kunst und Malerei Ulla von Brandenburg vorgestellt: It Has a Golden Sun and an Elderly Grey Moon. Die Neuerwerbungen der Städtischen Galerie verdeutlichen erfahrbar und bildhaft ihre Philosophie und lösen ihr Versprechen auf „überraschende Dialoge innerhalb der Bestände“ ein. Da ist einerseits die Landschaftsstudie (1861) des zuletzt in Karlsruhe bis zu seinem Ableben im Jahr 1924 schaffenden Direktors der Kunsthalle, Hans Thoma. Meyer’s Großes Konversations-Lexikon nannte ihn 1909 „einen der Lieblingsmaler des deutschen Volkes“.

Wenig idyllisch, dafür jedoch politisch provokativ und hochaktuell die Rauminszenierung von Franz Ackermann mit dem bewusst harmlosen Titel Zu Hause mit Frontex (2010). Ackermann ist Professor für Malerei an der Kunstakademie Karlsruhe. Wer weiß, dass Frontex die Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache ist, begreift schnell, dass dieser Begriff das mit „zu Hause“ assoziierte Idyll sprengt. Frontex ist zuständig dafür, dass Flüchtlinge, die meist auf dem Wasserweg von Marokko in Richtung Italien in Schlepperbooten versuchen, Europa zu erreichen, nicht unerlaubt an Land gehen. Umgeben von großflächigen, farbintensiven Gemälden, bricht ein bepflanztes blaues 50er-Jahre-Ruderboot als Teil der Inszenierung den abstrakten Bezug auf eine beinahe ironische Weise. Spätestens jetzt wird den Betrachtenden der Bezug zu den tragischen Schicksalen der Bootsflüchtlinge klar. Das neue Motto der Galerie definiert exakt ihre Rolle: „Die Städtische Galerie Karlsruhe ist das Kunstmuseum für moderne und zeitgenössische Kunst der Stadt.“ Eben: heute.

Morgen

Um das Morgen aus dem Gestern und Heute zu gestalten braucht es einen Katalysator. Und dieser heißt Hochschule für Gestaltung (HfG). Passenderweise liegt sie auf dem Weg von der Kunsthalle in die Zukunft genau in der Mitte des Hallenbaus, sodass die Besuchenden gleich nach „gestern“ im „Morgen“ landen. Hier sprudelt lebendig und ungezähmt die Kreativität von morgen. An der HfG studieren junge Kunststudentinnen und -studenten, experimentieren, verwirklichen ihre oft eigenwilligen, aber immer überraschenden Ideen. Dazu bekommen sie jeden verfügbaren Freiraum und alle möglichen Ressourcen. So werden sie zu Künstlerinnen und Künstlern, die in wenigen Jahren unsere neue Welt der Wahrnehmung formen und prägen. Morgen … Was kommt nach „morgen“? Übermorgen! Bevor wir uns dahin auf den Weg machen, zwei ernst gemeinte Tipps: Sprechen Sie im Zusammenhang mit dem ZKM nie das „M-Wort“ aus – „Museum“, denn es ist viel mehr als nur ein Museum.

Und wenn Sie durch den Eingang in den kommenden Teil des Time-Tunnels schreiten, machen Sie sich auf etwas gefasst: Im vierten Abschnitt der Zeitreise gestern, heute, morgen erleben Sie auch „Back to the Future“. Es sind die Installationen äußerst fragiler Pionierwerke der Medienkunst. Deren Technik ist nach 40 Jahren ermüdet. Was, wenn eine Röhre durchbrennt, ein Schalter verschmort? Dann wäre das Kunstwerk hin. Hier nicht. Denn dann gehen die ZKM-Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in ihre Werkstatt. Sie verfügt über das größte Lager an antiken Ersatzteilen weltweit und hat sogar einen Spezialisten an Land gezogen, der – man höre und staune – im Notfall sogar selbst Röhren bauen könnte. Doch nur ein paar Schritte weiter, vorbei an vielen Ikonen der Medienkunst und ihren Projekten, führt der Time-Tunnel in Räume, die Rätsel aufgeben: „Renaissance 3.0“. Mehr „übermorgen“ geht nicht. Ein Gesamtkunstwerk. Das Vermächtnis des verstorbenen ZKM-Genies Peter Weibel. Teils rätselhaft, teils sehr real. Wie zum Beispiel eine begehbare Fläche auf dem Boden, auf der projizierte Schlüsselbegriffe umherwandern. Setzt man seine Füße auf eines der Wörter, erscheint auf der gegenüberliegenden Wand die Definition des Begriffs. Raffiniert gemacht … Doch wie so oft auf dieser Zeitreise fragt sich der Verstand beim Betrachten ein ums andere Mal: Was möchte uns dieser Künstler mit seinem Werk sagen? Was ist die Botschaft eines Zukunftsprojekts wie „Renaissance 3.0“? Denn immerhin sind wir ja überall sonst erst nur bei „2.0“ … Warum ist es – Zitat – „ein Basislager für neue Allianzen von Kunst und Wissenschaft im 21. Jahrhundert“? Darum noch ein dringender Tipp: Wer eine Führung bucht, wird über die gewonnenen Erkenntnisse staunen und beseelt nach Hause gehen. Denn sie oder er hat die Zukunft gesehen, Wissen und Einsichten gewonnen und den Horizont erweitert. Aber wer ist schlauer als Erwachsene? Kinder! Wenn sie das ZKM besuchen, stürmen sie gleich die Treppe hinauf, denn sie wissen schon genau: Dort oben warten Videogames aus allen Generationen auf sie, von Ping-Pong (1972, Atari) über Pac-Man (1980) bis Super Mario (1985, jüngste Version 2021) und mehr. Nicht nur zum Ansehen, sondern zum Spielen. So bunt, blinkend, piepend und tönend kann Medienkunst auch sein, denn sie ist kein Schwarzbrot, sondern vor allem Lebensfreude, Entdeckergeist, Unterhaltung und die Erfüllung der Fantasie.

„Gestern, heute, (über)morgen“. Von Grünewald zur „Renaissance 3.0“ – was für ein dynamischer, inspirierender Zeitsprung im Hallenbau zu Karlsruhe. Wenn Sie dann aus dem Time-Tunnel hinaus ins helle Sonnenlicht der Gegenwart treten, wissen Sie nach dieser Zeitreise, warum die Stadt, auf deren Straßen Sie nun gehen, als einzige in Deutschland den Titel „UNESCO City of Media Arts“ verliehen bekam. Das Wunderbare an dieser Zeitreise ist, dass man sie beliebig oft wiederholen kann – und sollte. Denn bei jedem Mal warten neue Überraschungen. Übrigens: Wenn Ihnen der Begriff „TimeTunnel“ bekannt vorkommt, kennen Sie die gleichnamige US-TV-Kultserie aus dem Jahr 1966/67. Auch auf ihre Art Medienkunst. Dort fragen sich die Protagonisten immer wieder: „Überstehen wir das gesund?“ Eine Frage, die sich im Kunst-Time-Tunnel des Karlsruher Hallenbaus ganz einfach beantworten lässt: Ja! Viel mehr noch – man kommt lebendiger wieder in der Gegenwart an, als man diese Zeitreise begonnen hat.